Unicode alleine reicht für Auslandsprojekte nicht aus

Mehrsprachige Rechnungen sind bei internationalen Enterprise-Resource-Planning(ERP)-Projekten nur der Anfang. Unternehmen brauchen darüber hinaus ein klares Architekturkonzept und den richtigen Partner.

NICHT NUR Großunternehmen, sondern auch mittelständische Betriebe stellen sich zunehmend international auf. Sind Standorte in mehreren Ländern vorhanden, will das Management oftmals Einkauf, Produktion, Verkauf und Service länderübergreifend steuern. Chris­tian Hestermann, Research Director ERP bei Gartner, unterscheidet bei der Internationalisierung mehrere Stufen: auf der untersten Ebene geht es darum, grenzüberschreitend mehrsprachige Dokumente aus der unternehmensweiten Standardsoftware (ERP) zu erstellen. Rechnungen, Gehaltszahlungen und Geschäftsabschlüsse müssen den Anforderungen des Ziellandes entsprechen. Das fängt bei der Steuernummer auf der Rechnung an, geht über internationale Gehaltsabrechnungen und hört bei den Bilanzierungsvorschriften noch nicht auf. ERP-Lösungen müssten die Vorschriften und Gesetze im Zielland abdecken.
Eine nächste Stufe sind laut Hes­termann die Branchenvorschriften: Relevant für Fertigungsbetriebe seien beispielsweise die internationalen Vorschriften in der Abfallwirtschaft, während sich Hersteller und Händler von Medizinprodukten oder Lebensmitteln eher um Themen wie Chargenverfolgung kümmern müssen. Ein Teil dieser Vorschriften lasse sich durch ein Dokumentenhandling abdecken, das Reports aus dem ERP-System generiert. Andere Punkte müssten direkt in der Software hinterlegt sein: Hestermann nennt das Beispiel eines Fertigungsauftrags, der sich erst dann starten lässt, wenn ein Mitarbeiter bestätigt hat, dass dabei alle arbeitsschutzrechtlichen Regeln eingehalten werden.

OEM-Module decken oft die lokalen Steuergesetze ab
Mehrsprachige Belege und international unterschiedliche Systeme der Finanzbuchhaltung unterstützt heute der größte Teil der ERP-Hersteller. Großanbieter wie SAP sind laut Hestermann ein Stück weiter, weil sie globale Präsenzen unterhalten. Kleinere Hersteller konzentrierten sich bei ihren Länderversionen auf bestimmte Zielmärkte, beispielsweise West-, Süd und Osteuropa. Karsten Sontow, Vorstand des ERP-Consultinghauses Trovarit, verweist auf eine weitere Variante: „Vor allem mittelstandsorientierte ERP-Hersteller bedienen die Themen Finanzen und Human Resources für internationale Märkte nicht mit eigenen Modulen, sondern mit OEM-Varianten der Applikationen von Drittherstellern.“ Als Beispiel nennt Sontow die Finanzmodule von CSS, Diamant oder Syska.
Eine weitere Variante sind laut Gartner-Analyst Hestermann lokale Dienstleister nach dem Muster der deutschen Steuerberatergenossenschaft DATEV, die im jeweiligen Zielland die Lohn- und Gehaltsabrechnungen entsprechend der lokalen Bestimmungen abwickeln und die Ergebnisdaten an das ERP-System der Auslandsniederlassung schicken.

Identische Software überall versus einfacheres Filialsystem
Nach der Frage der internationalen Eignung muss die Zielarchitektur der gewünschten ERP-Landschaft geklärt werden. Sontow beobachtet hier drei Varianten: „Bei großen Mandanten, die fertigen und verkaufen, bevorzugen viele Unternehmen das gleiche ERP-System wie im Mutterhaus.“ Das extreme Gegenbeispiel seien kleinere Vertriebsniederlassungen, die oft lediglich über eine gemeinsame Kundenverwaltung (CRM) und Auftragsabwicklung sowie über die Finanzkonsolidierung mit der Zentrale gekoppelt sind. Dazwischen gebe es die Variante, dass in der Zentrale ein voll ausgebautes ERP-System läuft, an das die Filialen ihre einfacheren ERP-Lösungen über ein Hub&Spoke-Szenario anbinden.
Als Kriterien dafür, wann sich ein voll integriertes ERP-System lohnt, verweist Hestermann auf die Größe der jeweiligen Landesgesellschaft und auf die Frage, wie stark sich die Geschäftsabläufe in den jeweiligen Ländern unterscheiden. „Wenn die Geschäftsabläufe im Heimatland und in der Filiale sehr unterschiedlich sind oder dort im Wesentlichen Vertrieb und Service stattfinden, dann lohnt es sich nicht, die große ERP-Lösung aus der Zentrale dort auszurollen. Ein kleines Filialsys­tem eignet sich dann besser.“ In einigen Ländern sind für bestimmte Bereiche eigene Systeme vorgeschrieben, wie Frank Naujoks, Analyst vom Marktforschungs- und Beratungshaus i2s, berichtet: „In China muss die Buchhaltung einer Auslandsniederlassung in einem separaten System laufen. Eine Mandantenlösung im ERP-System des Mutterhauses ist hier nicht zulässig.“
Wenn es um die Koppelung verschiedenartiger ERP-Systeme geht, sollten laut den Werbeaussagen der Hersteller Systeme auf Basis der Service-orientierten Architektur (SOA) im Vorteil sein. Diese Systeme kapseln Funktionen in kleinen Einheiten – sogenannten Services – welche die IT-Architekten angeblich nahezu beliebig zu Prozessketten koppeln können. Im Bewusstsein der Anwender hat sich das Schlagwort SOA bislang kaum niedergeschlagen, wie Sontow berichtet: „Unternehmen verlangen bei der Produktauswahl nicht nach der Service-orientierten Architektur, sondern sie nennen Funktionalitäten wie beispielsweise Intercompany-Prozesse.“ Generell habe SOA Vorteile in Sachen Modularisierung, Standardisierung und Beherrschbarkeit der Soft­ware. Davon profitiere allerdings zu allererst der Hersteller, wenn er eine Applikation weiterentwickelt oder wartet.
In der Unternehmenszentrale läuft häufig ein SAP-System. Als Alternative für den  internationalen Einsatz nennt Naujoks Agresso, Microsoft Dynamics Ax, IFS, Lawson Infor M3, Infor LN (das ehemalige Baan-System), sowie Sage X3. Die Systemauswahl für die Filialen sei relativ groß und umfasse beispielsweise Abas ERP, Microsoft Dynamics NAV, ProALPHA, SAP Business One sowie die Cloud-Lösung SAP Business ByDesign.

Customizing erhöht die Systemkosten drastisch
Sehr nahe an der Systemauswahl liegt die Frage des Customizing. „Wenn Unternehmen in mehreren Filialen ein einheitliches System fahren, dann sollten sie nach Möglichkeit im Standard bleiben und nicht in einzelnen Installationen Funktionen dazu programmieren“, empfiehlt Naujoks. „So halten die Projekte am ehesten das Budget und die Zeitvorgabe ein, und auch die Wartbarkeit lässt sich einfach sicherstellen.“ Consulter Sontow stellt bei internationalen Projekten keine Schwerpunkte in Sachen funktionaler Anpassungen oder Erweiterungen fest. Viel eher arbeiteten die Unternehmen an durchgängigen Schnittstellen.
Eng verbunden mit der Standardisierung der Software ist die Vereinheitlichung der Prozesse. Gartner-Analyst Hestermann bezeichnet es allerdings als eine Illusion, dass sich eine derartige Standardisierung quasi automatisch ergebe, wenn Unternehmen an mehreren Standorten das gleiche ERP-System einsetzen. Andererseits ließe sich eine Standardisierung der Prozesse mit etwas Sorgfalt auch bei unterschiedlichen Systemen erzielen. Generell lohne sich eine Harmonisierung der Abläufe dann, wenn ein Unternehmen dadurch agiler werde und besonders performante Abläufe von einem Standort auf den anderen übertragen könne.
Die Qualität der Stammdaten hat bei mehreren Unternehmensstandorten eine enorm große Bedeutung: Wenn die eine Filiale bei den Materialdaten siebenstellige und die andere achtstellige Codes nutzt, lassen sich eine gemeinsame Materialverwaltung nur unter großen Schwierigkeiten durchführen. „Unternehmen sollten bei den Stammdaten möglichst viel zentralisieren“, empfiehlt Sontow. Er warnt aber davor, alles zu zentralisieren, was technisch möglich ist. Sinnvoller sei es, sich auf eine betriebswirtschaftlich tragbare Variante zu konzentrieren. Manchmal sei es auch einfacher, Daten in einem Data Warehouse zu harmonisieren als sämtliche Informationen in den ERP-Systemen aller Landesgesellschaften auf einen identischen Stand zu bringen.

Stammdaten brauchen Pflege durch einen Data Steward
Hestermann unterscheidet bei der Harmonisierung der Stammdaten zwei Varianten: Ist an mehreren Standorten die gleiche Software im Einsatz, kann eine Instanz zum führenden System werden, das die Datenhohheit innehat. Bei unterschiedlichen Systemen sei eine systemübergreifende Lösung für das Datenqualitätsmanagement notwendig. Spezialisierte Systeme verfügen im Allgemeinen über eine größere Funktionalität als die internen Module der ERP-Systeme. Software alleine reiche allerdings nicht aus, um die Datenqualität sicherzustellen: „Das Management muss Verantwortlichkeiten definieren, wer Daten ändern darf, und Abläufe, wie Daten zu pflegen sind. Ein Data Steward ist nötig, denn die Qualität der Daten steigt nicht alleine dadurch, dass die Unternehmen eine Applikation für das Mas­ter Data Management einführen.“
Parallel zur Auswahl der Software wählen Unternehmen ihren Partner für Implementierung und Support aus. Diesen Schritt sollten sie laut Naujoks nicht unterschätzen: „Die Software ist durchaus vergleichbar, sofern die Unternehmen eine qualifizierte Auswahl treffen. Den wahren Unterschied bei internationalen Projekten machen die Partner.“ Empfehlenswert sei es, einen Generalunternehmer in Deutschland auszuwählen und mit diesem einen Vertrag nach deutschem Recht zu schließen, dass er sich um die Implementierung und den Support in den ausländischen Filialen kümmert. Am breitesten aufgestellt sei hier die SAP, aber auch bei Microsoft gebe es international aktive Partner wie beispielsweise Qurius und Tectura. Der ERP-Hersteller Abas beispielsweise habe in 28 Ländern eine Partnerschaft mit einem lokalen Systemhaus geschlossen und sichere sich über eine Beteiligung an diesen Unternehmen einen Einfluss auf deren Arbeit. Ein wichtiger Punkt bei der Arbeit mit Implementierungspartnern ist laut Hestermann die Governance: „Unternehmen müssen über eine zentrale Steuerung sicherstellen, dass die lokalen Implementierungspartner kein Eigenleben entwickeln und mit einem besonders ehrgeizigen lokalen Fürsten von dem globalen Template abweichen.“

Klare Führungskultur muss Systemstandards durchsetzen
Internationale Roll-outs nach dem Muster von Großkonzernen sind für Mittelständler nur sehr schwer zu finanzieren. Laut Hestermann ist es allerdings gefährlich, hier zu sparen: „Mittelstandsbetriebe sind nicht unbedingt einfacher als Großunternehmen und haben oft die gleichen Anforderungen. Sie sollten nicht glauben, dass sie diese quasi zum Nulltarif erfüllen können.“ In einem Punkt hätten kleinere Unternehmen allerdings einen deutlichen Vorteil gegenüber Konzernen: „Die größte Hürde bei langjährigen Projekten ist heute nicht mehr die Technologie. Die meiste Zeit geht mit Diskussionen verloren, wenn ein lokaler Manager meint, dass er die Prozesse, die anderswo definiert und gestestet wurden, nicht übernehmen kann.“ Wer dank einer klaren Führungskultur derartige Diskussionen vermeide, stemme einen internationalen Roll-out mit wesentlich weniger Aufwand. jf

Die Experten:

Christian Hestermann, Gartner-Analyst,

Frank Naujoks , I2s-Analyst und

Karsten Sontow, Trovarit-Vorstand

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