Die digitale Post erfordert angepasste Geschäftsabläufe

Lösungen für die automatische Postbearbeitung bewerben die Hersteller oft als Standardprodukte. Um optimale Erfolge zu erzielen, müssen diese eng mit den Geschäftsprozessen des Unternehmens verwoben werden. (Ausgabe 8+9/2013)

Eine eindeutige Definition des Begriffs Posteingangsbearbeitung existiert nicht. Gemeint sein kann sowohl die Sortierung der eingehenden Sendungen im Posteingang für die Weiterleitung (Ausbaustufe 1) als auch die Bereitstellung der Dokumente im Fachbereich (Ausbaustufe 2) oder auch die abschließende Bearbeitung des Anliegens (Ausbaustufe 3). Der folgende Beitrag betrachtet die Ausbaustufe 3, also die automatisierte Posteingangsbearbeitung. Folgende Schritte lassen sich hierbei unterscheiden:

  • Grobsortierung: Irrläufer und geschlossen weiterzuleitende Sendungen aussortieren.
  • Öffnen und Feinsortieren: Anhand inhaltlicher Kriterien den internen Empfängerkreis ermitteln.
  • Weiterleiten und Bereitstellen: Mitarbeiterindividuelle Zustellung des Dokuments zur Bearbeitung, abhängig von dessen Qualifikation und Auslastung sowie vom Inhalt des jeweiligen Schreibens.
  • Bearbeiten: Anliegen des Absenders in den verschiedenen Bearbeitungssystemen umsetzen.

Automatisierung beschleunigt sämtlich Prozessschritte
Jeder der genannten Schritte lässt sich durch Automatisierung beschleunigen. Bei der Grobsortierung ist beispielsweise das automatische Erkennen von Informationen auf geschlossenen Umschlägen technisch möglich. Wegen des relativ geringen Aufwandes, den Empfänger eines Schreibens im Adressfenster manuell zu überprüfen und abhängig davon zu sortieren, ergibt sich jedoch kaum ein Zusatznutzen, wenn dieser Schritt automatisiert wird.
Das Öffnen und Feinsortieren hingegen weist ein hohes Optimierungspotenzial auf: Jeder Brief muss angelesen werden um zu ermitteln, an wen er intern weiterzuleiten ist. Wird der Umschlag gescannt, lässt sich der Inhalt per OCR (Optical Character Recognition, automatische Zeichenerkennung) auslesen und damit das Dokument automatisch verarbeiten. Gleichzeitig steigt so allerdings der Aufwand bei der Vorbereitung der Dokumente für das Scannen.
Für das Scannen gibt es eine Vielzahl von Geräten aller Leistungsklassen, die jede Projektanforderung erfüllen. Bei der Vorbereitung empfiehlt es sich, die zu scannenden Dokumente nicht oder nur sehr grob nach inhaltlichen Kriterien zu sortieren. Primär sollte die Sortierung nach formalen Kriterien (etwa: einblättrig/mehrblättrig) erfolgen.
Die inhaltliche Sortierung für die Weiterleitung erfolgt im nachgelagerten Arbeitsschritt ‚Klassifizieren und Indexieren’ auf Basis der maschinell gelesenen Inhalte. Eingehende ­Schreiben enthalten nicht immer alle benötigten Informationen, um den internen Empfänger zu ermitteln. Fehlt beispielsweise im Anschreiben die Kundennummer, ist eine zusätzliche Recherche in Bestandssystemen nötig. Ist beim Klassifizieren und Indexieren der Zugriff auf Stammdaten möglich, lässt sich aus dem gelesenen Absender die Kundennummer per Abgleich automatisch ermitteln. Ein solcher Abgleich verbessert die Qualität der Leseergebnisse. So führt eine angenommene Erkennungsquote der OCR von 99,5 Prozent auf der Zeichenebene bei 100 auszulesenden Zeichen pro Dokument zu einer Erkennungsquote von 60 Prozent auf Dokumentebene. Somit sind die Daten aus vier von zehn Dokumenten wahrscheinlich fehlerhaft. Bei einem solchen Wert will kein Unternehmen Rechnungen automatisch zur Zahlung freigeben. Selbst bei lediglich 10 Zeichen einer Rechnungsnummer beträgt die Erkennungsquote auf Dokumentebene maximal 95 Prozent.
Je mehr Informationen aus einem Dokument ausgelesen werden, desto höher ist demnach der Anteil der Dokumente, die manuell nacherfasst werden müssen. Die Quote für das automatische Klassifizieren und Indexieren sinkt. Je mehr Daten jedoch erfasst werden (hier: Rechnungspositionen), desto stärker lässt sich die nachgelagerte Verarbeitung automatisieren (hier: zur Zahlung freigeben und buchen).

Abgleich mit ERP-Stammdaten erhöht die Erkennunsquote
Der Abgleich mit aktuellen Stammdaten verbessert die Erkennungsquote entscheidend. Lesefehler lassen sich dann erkennen und automatisch korrigieren. Der Zugriff auf die Stammdaten stellt jedoch bei der Automatisierung der Posteingangsbearbeitung eine hohe Hürde dar: Neben den rein technischen Aspekten der Systemkopplung spielen rechtliche Fragen eine große Rolle: Niemand darf vertrauliche Kundendaten außerhalb geschützter Bestandssysteme zur Verfügung stellen.
Auch die Qualität der Stammdaten ist zu beachten. Ein Abgleich der Rechnungspositionen mit der Bestellung im ERP-System nützt nämlich wenig, wenn 50 Prozent der Bestellungen gar nicht im ERP-System erfasst sind. Oder anders herum: Sämtliche Bestellungen sind zwar im ERP-System erfasst, aber jede Rechnung durchläuft vor der Zahlung einen Freigabeprozess. Dieser Prozess entfällt, wenn die Rechnung nach Eingang automatisch gebucht und gezahlt werden soll. Dieses Verfahren ist nur möglich, wenn die Freigabe konsequent auf den Bestellvorgang verlagert wird. Geht dann die Rechnung ein, ist der korrekte Wareneingang bestätigt, sind die formalen Anforderungen an die Rechnung erfüllt und stimmt die Rechnung inhaltlich mit der Bestellung überein, können Buchung und Zahlung ruhigen Gewissens automatisch ablaufen.
In Projekten endet die automatische Rechnungsbearbeitung oft damit, dass die Rechnungspositionen in ein Workflow-Formular wandern und anschließend die bisherigen Freigabeschritte zwar digital unterstützt, aber weiterhin manuell bearbeitet werden. Auch das kann ein hohes Maß an Effizienz bringen. Es sollte aber mit allen Beteiligten vor der Einführung abgestimmt sein.
Werden Briefe digitalisiert und per OCR ausgelesen, bietet sich als weiteres Optimierungspotenzial an, auch Faxe und E-Mails in diesen Prozess einzubinden. Dann entfällt die getrennte Sortierung und Weiterleitung der Eingänge aus verschiedenen Kanälen.

Digitaler Postkorb versus Workflow-System
Vergleicht man Arbeitsanweisungen und persönliche Handzettel der Mitarbeiter in Poststellen mit den tatsächlichen Sortierergebnissen, so zeigt sich oft, dass die Regeln komplizierter und dynamischer sind, als es die Dokumentation ausweist. Eine Optimierung entsteht hier indirekt: Um die Regeln in einem System abbilden zu können, muss deren Komplexität sinken. Bei der Vereinfachung sind die Poststelle und die empfangenden Fachbereiche gleichermaßen gefordert.
Hat ein Dokument den Weg in die richtige Abteilung gefunden, muss es den zuständigen Sachbearbeiter erreichen. Die mitarbeitergenaue Sortierung kann bereits bei der Feinsortierung in der Poststelle erfolgen. Alternativ bedienen sich Mitarbeiter aus dem Eingangskorb der Abteilung selbst oder es erfolgt eine manuelle oder automatische Zuweisung durch Dispatcher. Einfache Regeln für die Weiterleitung lassen sich über digitale Postkörbe abbilden. Bei komplexen und mehrstufigen Weiterleitungen oder dynamischen Verteilregeln kann dagegen ein Workflow-System die bessere Wahl sein.
Die digitale Weiterleitung und Verteilung schafft Transparenz in den Prozessen. Manche Unternehmen führen eine digitale Postbearbeitung nur deshalb ein, um einem Anrufer bereits beim ersten Kontakt qualifiziert Auskunft über den Bearbeitungsstatus seiner schriftlichen Anfrage geben zu können.
Für die Bearbeitung, Buchung und Zahlungsfreigabe einer Rechnung oder die Übernahme einer neuen Bankverbindung sind die bearbeitungsrelevanten Informationen zur Erledigung des Anliegens nötig (hier: Rechnungspositionen, Bankdaten). Idealerweise werden diese schon beim Klassifizieren und Indexieren aus dem Dokument automatisch extrahiert und gegen Stammdaten validiert.
Bei fehlenden Stammdaten ist eine vollständige manuelle Kontrolle der per OCR gelesenen Daten Standard. Muss allerdings jedes einzelne Dokument manuell geprüft werden, stellen Unternehmen schnell den Nutzen des Systems in Frage. Sofern die Daten valide sind, kann die Verarbeitung im Hintergrund automatisch erfolgen (sogenannte Dunkelverarbeitung). Dann werden nur diejenigen Vorgänge zur manuellen Bearbeitung im Bestandssystem ausgeschleust, welche die Regeln der hinterlegten Geschäftslogik verletzen. Verdeutlicht man sich, wie wenig ergonomisch Bestandssysteme für die manuelle Pflege von Stamm- und Kontaktdaten oft sind, wird der erzielbare Nutzen sofort sichtbar. Der Aufwand für das Implementieren der Geschäftslogik ist allerdings erheblich. Module, die bereits für Customer-Self-Care-Portale im Einsatz sind, lassen sich möglicherweise für diese Aufgabe mit nutzen.

Eine stufenweise Einführung sichert die Projektziele
Die Einführung einer Lösung sollte in mehreren Stufen erfolgen. Allein die Umstellung von papierhafter auf digitale Bereitstellung in den Fachbereichen führt zu teils gravierenden Veränderungen in der Systemlandschaft und den dokumentengetriebenen Prozessen. Automatisierungsschritte werden daher idealerweise in nachfolgende Ausbaustufen verlagert.
Der Weg, wie Dokumente aus der Poststelle zum zuständigen Sachbearbeiter gelangen, enthält oft so viele Sonderfälle, dass eine Automatisierung auf den ersten Blick unmöglich erscheint. Die Trägheit einer Organisationseinheit beim Wechsel von papierbasierter zu bildschirmorientierter Arbeit kann bemerkenswerte Ausmaße annehmen, der man mit konsequentem Projektmarketing gegenübertreten muss. Eine Analyse des Ist-Zustands sowohl in der Poststelle als auch in den Fachbereichen vor dem Projektstart sollte daher Pflicht sein, um zu einer belastbaren Projektdefinition zu kommen und sich so vor allzu großen Überraschungen im späteren Projektverlauf zu schützen.
Der laufende Betrieb einer automatischen Posteingangsbearbeitung stellt die IT vor neue Herausforderungen: Einmal eingeführt, sind Änderungen an einem produktiven System – grundsätzlich zu Recht – nur unter strengen Auflagen erlaubt und oft an feste Release-Zyklen gebunden.
Einen Kunden, der sein schriftliches Anliegen formuliert, dürfte das kaum interessieren. Kunden schreiben heute so und morgen so, mal holen sie sich ein für die automatische Bearbeitung geeignetes Formular aus dem Downloadbereich auf der Website, mal nicht. Mal streichen sie Einträge in Formularen, mal fügen sie Ergänzungen ein. Oder sie kopieren Vorlagen, um sie weiter zu nutzen. Daher muss es möglich sein, zeitnah im laufenden Betrieb die Systemkonfiguration der Maßnahmen zu überprüfen, wenn sich die Quoten für die automatische Verarbeitung verschlechtern. Tests ausschließlich anhand von zufälligen Beispieldokumenten in einer isolierten Entwicklungsumgebung in definierten Zeitfenstern bremsen die technischen Möglichkeiten der Systeme aus.
Wohl gemerkt: Es geht um die Veränderung von Systemkonfigurationen, beispielsweise der Positionierung von Lesefeldern auf einem Formular oder die Aktualisierung von Suchbegriffen für die Lokalisierung von Indexdaten in einem Dokument. Die Schnittstellen zwischen den beteiligten Systemen und die Prozessabläufe sind von einem Umbau komplett ausgenommen. Trotzdem gelingt es Unternehmen oft nicht, Prozesse für Ad-hoc-Änderungen der Konfiguration zu etablieren. Auch die verfügbaren Systeme tragen ihren Teil dazu bei: Sie unterstützen selten einen über Berechtigungen steuerbaren Zugang zur (schützenswerten) Programmier- und (anpassungsbedürftigen) Konfigurationsebene.
Insgesamt ist der qualitative Nutzen einer automatischen Posteingangsbearbeitung unstrittig. Oft unterschätzen Unternehmen allerdings, in welchem Umfang sie organisatorische Aufgaben in und zwischen den Fachbereichen lösen müssen, bevor sie ihren Posteingang (teil-)automatisiert digital berarbeiten können. Das gilt insbesondere dann, wenn nicht nur die Post für einzelne Prozesse, sondern der gesamte Posteingang möglichst umfänglich verarbeitet werden soll.

Sinkende Prozesskosten treten erst mit Verzögerung ein
Die Einführung einer automatischen Posteingangsbearbeitung sollten Unternehmen idealerweise in mehreren überschaubaren Schritten planen. Es dauert dann zwar länger, bis das gewünschte Ziel erreicht wird, und ist vermutlich teurer als die anfangs von den Anbietern genannten Systempreise für die benötigten Komponenten. Die zusätzlichen internen Kosten für den Ausbau der Infrastruktur, Kopplung der beteiligten Systeme bis hin zu der Ausstattung von Arbeitsplätzen mit zusätzlichen Bildschirmen, die Kosten für das Change Management in der Organisation und die laufenden Betriebskosten sind aber gut investiert. Ein messbarer Nutzen wird sich trotzdem einstellen. Vielleicht nicht in den versprochenen ersten zwölf Monaten, weil die Organisation zunächst mit den Veränderungen zurechtkommen muss. Wenn aber nach dieser Phase die Reaktionszeiten auf Kundenanfragen sinken, die Sachbearbeiter sich auf die inhaltliche Bearbeitung der Schreiben konzentrieren können statt auf die Suche nach und Ablage von Dokumenten, zeigt sich der qualitative Nutzen. Die Auswirkung auf die Prozesskosten sind erst mit Verzögerung messbar. Die Prozesse vor und nach der Einführung sollten unbedingt nach den gleichen Kriterien validiert werden, um nicht Äpfel (vorher) mit Birnen (nachher) zu vergleichen. jf

Der Autor

Manias Peter

Peter Manias ist Mitglied des Solution Center Business Processes des VOI e.V. und wirkt dort bei der Entwicklung von Standards für dokumentbasierte Prozesse mit. Außerdem ist er geschäftsführender Gesellschafter der Consultec Dr. Ernst GmbH, einem auf die Einführung und Optimierung von ECM-Lösungen spezialisierten Beratungshaus. Foto: Foto: Consultec Dr. Ernst GmbH

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